Ursprüngen der Philosophie nach Karl Jaspers

Der Begriff "Ursprung"

Der Begriff "Anfang" ist historisch. Wenn wir nach den Anfängen der Philosophie fragen, suchen wir also nach einem raumzeitlichen Punkt in der Vergangenheit, in der wir zum ersten Mal eine Person finden, die das tut, was wir heute Philosophieren nennen. Oder wir suchen nach den ersten Dokumenten, die philosophisches Denken erkennen lassen.

Der Begriff "Ursprung" ist im Unterschied dazu persönlich. Jeder Mensch setzt sich im Laufe seines Lebens mit Fragen, die die Philosophie kennzeichnen, auseinander. Und er sucht nach Antworten auf diese Fragen.


In diesem Sinn hat es philosophierende Menschen natürlich lange Zeit vor Thales schon gegeben. Und in diesem Sinn ist jeder Mensch - egal ob er schon einmal etwas von Thales oder Sokrates gehört hat oder nicht - auch ein Philosoph oder eine Philosophin.


Die Frage, mit der wir uns also in diesem Abschnitt auseinandersetzen werden, ist die Frage, was die Menschen zum Philosophieren bringt. Oder anders formuliert: "Was sind die Ursprünge der Philosophie?"


Ein Philosoph, der sich sehr umfassend genau mit dieser Frage auseinandersetzt, ist Karl Jaspers. Ihn werden wir gleich etwas näher kennen lernen.

Der Philosoph Karl Jaspers

Karl Jaspers; Büste von Christa Baumgärtel (Bildquelle: Wikipedia)
Karl Jaspers; Büste von Christa Baumgärtel (Bildquelle: Wikipedia)

Leben:

Karl Jaspers ist Facharzt für Psychiatrie und Philosoph. Als Philosoph wird er der Existenzphilosophie zugerechnet.

Jaspers kommt aus einer Oldenburger Bankiersfamilie. Schon als Kind leidet Jaspers an einer Lungenerkrankung, von der er weiß, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem frühen Tod führen wird. Durch strenge Disziplin gelingt es Jaspers nicht nur, trotz seiner Erkrankung ein hohes Alter zu erreichen, die Disziplin ist es auch, die ihn - trotz des drohenden frühen Todes - dazu bringt, nicht einfach zu resignieren, sondern das Gymnasium zu absolvieren, obwohl er nicht weiß, ob er es jemals bis zur Matura schaffen wird, und ein Studium zu beginnen, obwohl er nicht weiß, ob er es jemals abschließen wird können.

 

Nach dem Studium - Jaspers studiert zuerst Jus und wechselt dann zu Medizin und Philosophie - arbeitet Jaspers als Facharzt für Psychiatrie. Auch die Beschäftigung mit Menschen, die an ihrem Leben extrem leiden und die "den selbstverständlichen Bezug zu sich selbst und der Welt" verloren haben, wie das bei Menschen mit Psychosen der Fall ist, bringt ihn dazu, sich tiefer mit philosophischen Fragen zu beschäftigen.

 

Dass Jaspers mit einer Frau, die jüdischer Herkunft ist, verheiratet ist, beendet seine Karriere als Arzt und Universitätsprofessor in Heidelberg nach 1933 jäh. Als er sich 1937 weigert, sich von seiner Frau zu trennen, wird er gekündigt und mit Publikationsverbot belegt. Der bereits beschlossenen Deportation in ein Konzentrationslager können er und seine Frau 1945 durch das Ende des NS-Regimes entgehen.

 

Nach 1945 arbeitet Jaspers in Heidelberg und zunehmend öfter in Basel.

 

Philosophie:

Als Vertreter der Existenzphilosophie betont Jaspers die Eigentümlichkeit der menschlichen Existenz. Die menschliche Existenz ist für ihn durch Freiheit und durch die Konfrontation mit Grenzsituationen wie Zufall, Leid, Konflikt, Schuld und Tod gekennzeichnet.

Die Menschen dürfen diese Grenzerfahrungen nicht verdrängen, sondern müssen sich ihnen stellen, um zu einer Persönlichkeit zu werden und in der Auseinandersetzung mit ihnen Identität zu entwickeln.

Text: Ursprünge der Philosophie (von Karl Jaspers)

Im Folgenden findest du einen Ausschnitt aus Karl Jaspers Werk "Einführung in die Philosophie" (1950), das auf einem Radiobeitrag basiert.

 

Die Geschichte der Philosophie als methodisches Denken hat ihre Anfänge vor zweieinhalb Jahrtausenden, als mythisches Denken aber noch viel früher.

 

Doch Anfang ist etwas anderes als Ursprung. Der Anfang ist historisch und bringt für die Nachfolgenden eine wachsende Menge von Voraussetzungen durch die nun schon geleistete Denkarbeit. Ursprung aber ist jederzeit die Quelle, aus der der Antrieb zum Philosophieren kommt. Durch ihn erst wird die gegenwärtige Philosophie wesentlich, die frühere Philosophie verstanden.

 

Dieses Ursprüngliche ist vielfach. Aus dem STAUNEN folgt die Frage und die Erkenntnis, aus dem ZWEIFEL am Erkannten die kritische Prüfung und die klare Gewissheit, aus der ERSCHÜTTERUNG DES MENSCHEN und dem Bewusstsein seiner Verlorenheit die Frage nach sich selbst. Vergegenwärtigen wir uns zunächst diese drei Motive:

 

ERSTENS: Plato sagte, der Ursprung der Philosophie sei das ERSTAUNEN. Unser Auge hat uns "des Anblicks der Sterne, der Sonne und des Himmelsgewölbes teilhaftig werden lassen". Dieser Anblick hat uns "den Trieb zur Untersuchung des Alls gegeben. Daraus ist uns die Philosophie erwachsen, das größte Gut, das dem sterblichen Geschlecht von den Göttern verliehen ward". (...)

 

Sich wundern drängt zur Erkenntnis. Im Wundern werde ich mir des Nichtwissens bewusst. Ich suche das Wissen, aber um des Wissens selber willen, nicht "zu irgendeinem gemeinen Bedarf".

 

Das Philosophieren ist wie ein Erwachen aus der Gebundenheit an die Lebensnotdurft. Das Erwachen vollzieht sich im zweckfreien Blick auf die Dinge, den Himmel und die Welt, in den Fragen: was das alles und woher das alles sei - Fragen, deren Antwort keinem Nutzen dienen soll, sondern an sich Befriedigung gewährt.

 

ZWEITENS: Habe ich Befriedigung meines Staunens und Bewunderns in der Erkenntnis des Seienden gefunden, so meldet sich bald der ZWEIFEL. Zwar häufen sich die Erkenntnisse, aber bei kritischer Prüfung ist nichts gewiss. Die Sinneswahrnehmungen sind durch unsere Sinnesorgane bedingt und täuschen, jedenfalls nicht übereinstimmend mit dem, was außer mir unabhängig vom Wahrgenommen-Werden an sich ist. Unsere Denkformen sind die unseres menschlichen Verstandes. Sie verwickeln sich in unlösbare Widersprüche. Überall stehen Behauptungen gegen Behauptungen. Philosophierend ergreife ich den Zweifel, versuche ihn radikal durchzuführen, nun aber entweder mit der Lust an der Verneinung durch den Zweifel, der nichts mehr gelten lässt, aber auch seinerseits keinen Schritt voran tun kann - oder mit der Frage: wo denn Gewissheit sei, die allem Zweifel sich entziehe und bei Redlichkeit jeder Kritik standhalte.

(...) Der Zweifel wird als methodischer Zweifel die Quelle kritischer Prüfung jeder Erkenntnis. Daher: ohne radikalen Zweifel kein wahrhaftiges Philosophieren. Aber entscheidend ist, wie und wo durch den Zweifel selbst der Boden der Gewissheit gewonnen wird.

 

Und nun DRITTENS: Hingegeben an die Erkenntnis der Gegenstände in der Welt, im Vollzug des Zweifels als des Weges zur Gewissheit bin ich bei den Sachen, denke ich nicht viel an mich, nicht an meine Zwecke, mein Glück, mein Heil. Vielmehr bin ich selbstvergessen befriedigt im Vollzug jener Erkenntnisse.

 

Das wird anders, wenn ich meiner selbst in meiner Situation mir bewusst werde.

 

Der Stoiker Epiktet sagte: "Der Ursprung der Philosophie ist das Gewahrwerden der eigenen Schwäche und Ohnmacht. Wie helfe ich mir in der Ohnmacht? Seine Antwort lautete: indem ich alles, was nicht in meiner Macht steht, als für mich gleichgültig betrachte, in seiner Notwendigkeit dagegen, was an mit liegt, nämlich die Weise und den Inhalt meiner Vorstellungen durch Denken zur Klarheit und Freiheit bringe.

 

Vergewissern wir uns unserer menschlichen Lage. Wir sind immer in Situationen. Die Situationen wandeln sich, Gelegenheiten treten auf. Wenn sie versäumt werden, kehren sie nicht wieder. Ich kann selber an der Veränderung der Situation arbeiten. Aber es gibt Situationen, die in ihrem Wesen bleiben, auch wenn ihre augenblickliche Erscheinung anders wurde und ihre überwältigende Macht sich in Schleier hüllt: ich muss sterben, ich muss leiden, ich muss kämpfen, ich bin dem Zufall unterworfen, ich verstricke mich unausweichlich in Schuld. Diese Grundsituationen unseres Daseins nennen wird GRENZSITUATIONEN. Das heißt, es sind Situationen, über die wir nicht hinaus können, die wir nicht ändern können. Das Be­wusstwerden dieser Grenzsituationen ist nach dem Staunen und dem Zweifel der tiefere Ursprung der Philosophie. Im bloßen Dasein weichen wir oft vor ihnen aus, indem wir die Augen schließen und leben, als ob sie nicht wären. Wir vergessen, dass wir sterben müssen, vergessen unser Schuldigsein und unser Preisgegebensein an den Zufall. Wir haben es dann nur mit konkreten Situationen zu tun, die wird meistern zu unseren Gunsten, und auf die wir reagieren durch Plan und Handeln in der Welt, getrieben von unseren Daseinsinteressen. Auf Grenzsituationen aber reagieren wir entweder durch Verschleierung oder, wenn wir sie wirklich erfassen, durch Verzweiflung und Wiederherstellung: wir werden selbst in einer Verwandlung unseres Seinsbewusstsein.

 

Arbeitsaufgaben

A1: Verfasse einen kurzen biographischen Steckbrief zu Karl Jaspers mithilfe von Internetquellen

A2: Fasse den Text von Jaspers mithilfe der folgenden Leitfragen stichwortartig zusammen:


* Was versteht Jaspers unter "Ursprüngen des Philosophierens"?

* Staunen, Zweifel und Erschütterung sind lt. Jaspers die drei Ursprünge des Philosophierens. Was kann man unter diesen Ursprüngen jeweils verstehen? Wohin führen Staunen, Zweifeln und Erschütterung? In welchen Lebensphasen und in welchen Lebenssituationen suchen Menschen diese Zugänge zum Philosophieren? Was "bekommen" sie dadurch? Wie verändert sich dadurch ihr Blick auf die Welt? Wie prägt sich dadurch ihre eigene Identität? Mache mithilfe einer Tabelle eine Übersicht über diese drei Ursprünge. 

* Erschütterung ist mit dem Erleben von Grenzsituationen verbunden. Was sind Grenzsituationen? Wie reagieren Menschen auf die Konfrontation mit Grenzsituationen? Was sind weniger konstruktive, was sind konstruktive (hilfreiche) Möglichkeiten des Umgangs mit ihnen?



Literatur und Internetquellen