anthropologische Kontroversen: Ist der Mensch (nur) ein Tier?

Position 1: Der Mensch ist etwas Besonderes und hat eine Sonderstellung gegenüber anderen Lebenwesen

In der westlichen Welt gibt es eine lange Tradition, den Menschen als ein ganz besonderes Lebewesen zu sehen, das sich von den anderen Lebewesen auf diesem Planeten ganz fundamental unterscheidet. Diese Tradition ist einerseits religiös (Judentum, Genesis) begründet. Andererseits sprechen auch antike Philosophen, v.a. der sehr einflussreiche Aristoteles, dem Menschen eine Sonderstellung "über" den anderen Lebewesen zu.

 

 

Die Sonderstellung des Menschen in den abrahamitischen Religionen ...

 

In den abrahamitischen Religionen wird die Sonderstellung des Menschen u.a. dadurch begründet, dass 

der Mensch ausdrücklich nicht gemeinsam mit den anderen Tieren des Landes erschaffen worden sei, sondern erst im Anschluss daran

der Mensch von Gott den Auftrag und die Erlaubnis erhalten habe, "sich die Erde untertan zu machen"

der Mensch nach Gottes Ebenbild erschaffen worden sei

der Mensch im Unterschied zu den Tieren über eine unsterbliche Seele verfüge, die auch nach dem körperlichen Tod weiterexistiere

der Mensch im Unterschied zu den Tieren zur Unterscheidung von Gut und Böse in der Lage sei 

 

Die Sonderstellung des Menschen in der antiken Philosophie (Aristoteles) ...


Der griechische Philosoph Aristoteles gilt als wichtiger Vordenker der späteren Naturwissenschaften, der sich - im Unterschied zu seinem Lehrer Platon - von konkreten Beobachtungen leiten lässt, wenn er versucht, die Welt und die Stellung des Menschen in der Welt zu beschreiben. Aristoteles beschreibt den Menschen als Lebewesen, das zwischen Göttern auf der einen Seite und den Tieren auf der anderen Seite steht. Dabei betont er auf der einen Seite das, was der Mensch mit anderen Lebewesen gemeinsam hat: das Leben, also Geboren-Werden, Nahrung zu sich nehmen, Sterben, Fortpflanzung mit den Pflanzen und Sinneseindrücke und Empfindungen wie z. B. Schmerz mit den Tieren. Aber nur der Mensch verfügt über Verstand, nur der Mensch kann denken, worin Aristoteles dann auch seine eigentliche Bestimmung sieht, und nur der Mensch kann eigene Gesetze bilden und so das soziale Zusammenleben der Menschen regeln. Er verfügt also die Fähigkeit zu ethischen Reflexionen und zu ethisch begründeten Entscheidungen. Und: der Mensch ist für Aristoteles ganz zentral ein soziales Lebewesen, das dazu bestimmt ist, mit anderen Menschen gemeinsam Staaten zu bilden. Autonom, also für sich selbst lebensfähig, sind nach seiner Meinung nur wilde Tiere und Götter. 


Textauszug 1: Aristoteles: Nikomachische Ethik. 1. Buch

Darüber nun, dass die Glückseligkeit als das höchst Gut zu bezeichnen ist, herrscht wohl anerkanntermaßen volle Übereinstimmung; was gefordert wird, ist dies, dass mit noch größerer Deutlichkeit aufgezeigt werde, worin sie besteht. Dies wird am ehesten so geschehen können, dass man in Betracht zieht, was des Menschen eigentliche Bestimmung ist. …

Und welche könnte es nun wohl sein? Das Leben hat der Mensch augenscheinlich mit den Pflanzen gemein; was wir suchen, ist aber gerade das dem Menschen unterscheidend Eigentümliche. Von dem vegetativen Leben der Ernährung und des Wachstums muss man dabei absehen. Daran würde sich dann zunächst etwa die Fähigkeit zur Empfindung anschließen; doch auch dieses teilt der Mensch offenbar mit dem Pferd, dem Rind und den Tieren überhaupt. So bleibt denn als für den Menschen allein kennzeichnend nur das tätige Leben des vernünftigen Seelenheils übrig (…) Bedenken wir nun Folgendes. Die Aufgabe des Menschen ist die Vernunftgründen gemäße oder doch wenigstens solchen Gründen nicht verschlossene geistige Betätigung. (…)

 

Textauszug 2: Aristoteles: Politik. 1. Buch

Dass (…) der Mensch in höherem Grade ein Staaten bildendes Lebewesen („zoon politicon“) ist als jede Biene oder irgendein Herdentier, ist klar. (…) Der Mensch ist (…) das einzige Lebewesen, das Sprache besitzt. Die Stimme zeigt Schmerz und Lust an und ist darum auch den anderen Lebewesen eigen (…); die Sprache dagegen dient dazu, das Nützliche und Schädliche mitzuteilen und so auch das Gerechte und Ungerechte. Dies ist nämlich im Gegensatz zu den anderen Lebewesen den Menschen eigentümlich, dass er allein die Wahrnehmung des Guten und Schlechten, des Gerechten und Ungerechten und so weiter besitzt. Die Gemeinschaft in diesen Dingen schafft die Familie und den Staat. (…) Dass also der Staat von Natur ist und ursprünglicher als der Einzelne, ist klar. (…) Wer aber nicht in Gemeinschaft leben kann oder in seiner Autarkie ihrer nicht bedarf, der ist kein Teil des Staates, sondern ein wildes Tier oder ein Gott. (…) Denn wie der Mensch in seiner Vollendung das vornehmste Geschöpf ist, so ist er auch ohne Gesetz und Recht das schlechteste von allen. (…)

 

hierarchisches Menschenbild des Aristoteles 1 (eigene Grafik)
hierarchisches Menschenbild des Aristoteles 1 (eigene Grafik)
Menschenbild des Aristoteles 2 (eigen Grafik)
Menschenbild des Aristoteles 2 (eigen Grafik)

Die moderne Sicht auf die Sonderstellung des Menschen: Aufklärung

 

Die Philosophie der Aufklärung, die das 18. Jahrhundert v.a. in Deutschland und in Frankreich prägt, setzt sich in sehr radikaler Weise mit der Frage nach dem Wesen des Menschen auseinander. Ihre Vertreter argumentieren v.a. gegen den durch die christliche Religion begründeten religiöse Blick auf den Menschen als ein von Gott geschaffenes und Gott gegenüber zu Gehorsam verpflichtetes Lebewesen ab.


Dazu stellen sie den Begriff der Vernunft ins Zentrum. Der Mensch ist für sie ein vernunftbegabtes Lebewesen. Deshalb kann er - sofern er den Mut entwickelt, diesen auch zu gebrauchen (Kant) - für sich selbst denken. Er braucht keine religiösen Autoritäten, denen er sich gehorsam unterwerfen muss. Und staatliche Autoritäten muss er nur insofern anerkennen, als dass die Gesetze, die sie erlassen, vernünftig begründet und im Dienste der Gemeinschaft sind. 


Vor diesen Hintergrund entwickeln sich die zentralen Grundwerte, die das moderne westliche Denken bis heute prägen und die Grundlage für die Menschenrechts-Entwicklung und für das moderne Staatsverständnis sind: 


  • die Idee der Gleichheit aller Menschen (insofern als dass alle Menschen das Potential der Vernunft besitzen). 

  • die Idee der Freiheit und der Autonomie (insofern als dass alle Menschen als denkende Wesen für sich selbst entscheiden können; und insofern als dass es keine Legitimation dafür gibt, weshalb ein Teil der Menschen über andere Menschen bestimmen können soll)

  • die Idee der Menschenwürde als Verbot, einen Menschen als Objekt, als "Mittel zum Zweck" zu betrachten (Kant) und ihm immer Subjektcharakter / Personalität zuzusprechen

  • die Idee des Gesellschaftsvertrags und des Rechtsstaats und der Demokratie (insofern als dass vernünftige Menschen selbst entscheiden können, wie sie mit anderen Menschen zusammenleben wollen und wem sie unter welchen Umständen und mit welchen Zielsetzungen mehr Macht als anderen verleihen)

  • die Bedeutung von Bildung als Prozess, in dem Menschen zum Gebrauch des eigenen Verstandes befähigt werden. 

Position 2: Der Mensch ist ein Säugetier. 

Menschenbilder, die die Sonderstellung des Menschen betonen, geraten durch moderne wissenschaftliche Entdeckungen und Erkenntnisse unter Druck. 


Am Anfang dieser Entwicklung stehen die Entdeckungen, auf deren Grundlage Charles Darwin im 19. Jahrhundert die Evolutionstheorie entwickelt ("Die Entstehung der Arten", 1859). Sie besagt, dass der Mensch, ebenso wie die anderen Lebewesen, in einem über viele Jahrtausende andauernden evolutionären Prozess entstanden sei und gemeinsame Vorfahren mit Menschenaffen (Hominiden wie Schimpansen, Orang Utans, Bonobos) habe. Und auch wenn der Mensch das komplexeste aller Lebewesen auf diesem Planeten sein mag: die Vorstellung, der Mensch sei etwas "ganz anderes" ist damit in Frage gestellt. Die Grenzen zwischen Menschen und anderen Tieren ist durchlässig geworden. 


Auch andere Theorien unterstützen und verstärken diese Sichtweise auf den Menschen als Säugetier:


Philosophen wie Arthur Schopenhauer (Willensmetaphysik) oder Friedrich Nietzsche greifen in ihren Werken das Menschenbild der Aufklärung an, indem sie die "Triebseite" des Menschen betonen. In dieser Tradition steht auch die Psychoanalyse (S. Freud).  ist unter anderem auch eine Gegentheorie zur Aufklärung. Denn mit dem Postulat, der Mensch sei in seinem Handeln von ihm selbst nicht zugänglichen unbewussten Trieben gesteuert und die Vernunft sei allenfalls einer dünnen brüchigen Eisfläche über einem tiefen gefährlichen See vergleichbar stellt er den Kern des aufgeklärten Blicks auf den Menschen in Frage. Und so sieht Freud die Psychoanalyse in der Tradition von Theorien, die ein Angriff auf die traditionelle Idee von der Sonderstellung des Menschen sind und damit vielfach als eine "narzisstische Kränkung" wahrgenommen und bekämpft würden: das heliozentrische Modell des Kopernikus (das die Erde und den Menschen aus dem Mittelpunkt des Weltalls katapultiert), die Theorie Darwins (die den Menschen in eine Entwicklungslinie mit den Tieren stellt und ihn zu einem Zufallswesen macht) und Freuds eigene Theorie der Psychoanalyse (die die Bedeutung der Vernunft als wesensbestimmendes Merkmals des Menschen in Frage stellt). 


Die moderne Genforschung zeigt uns, dass der Mensch über 98 % des genetischen Codes mit seinen nächsten Verwandten teilt, ihm als genetisch in vielem sehr ähnlich ist. 


Die moderne Verhaltensbiologie zeigt uns, dass viele Tiere sehr wohl über viele Fähigkeiten verfügen, die man traditionellerweise für exklusiv menschlich gehalten hat: 

  • Tiere sind wahrscheinlich zumindest in Ansätzen zum symbolischen Gebrauch von Sprache fähig (z.B.: spiegel.de)
  • Tiere sind wahrscheinlich zu komplexeren Denkoperationen fähig (z. B. Spiegel.de)
  • manche Tiere verfügen über die Fähigkeit zur Selbstreflexion (Spiegel-Test)
  • manche Tiere sind fähig, erworbenes Wissen an ihre eigenen Nachkommen weiterzugeben, sodass auch Tiere Kulturen im weitesten Sinn entwickeln. Berühmt geworden sind z. B. die die badenden Schneeaffen in Japan.
  • manche Tiere entwickeln offenbar einfache Vorstellungen von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit und Fairness (Forschungen von Sarah Brosnan und Frans de Waal mit Kapuzineräffchen; auch auf Youtube


Kommentar zur Kränkungs-These Freuds

Die Folgen der Debatte

Die Diskussion über die Frage, ob sie die traditionelle grundlegende Trennung zwischen Mensch und Tier angesichts moderner wissenschaftlicher Erkenntnisse noch argumentativ rechtfertigen lässt, wird sehr hart und teilweise auch sehr emotional geführt. Dabei geht es vor allem auch um ethische und rechtliche Konsequenzen, die sich aus dieser Debatte notwendigerweise ergeben. 


Der Speziezismus-Vorwurf: BefürworterInnen einer stärkeren Gleichsetzung von Menschen und Tieren sagen, wir würden heute (ähnlich wie die Verteidiger des Rassismus im 19. und 20. Jahrhundert) eine Art Speziezismus pflegen, wenn wir nur dem Menschen grundlegende Rechte und eine Würde zuerkennen. Und wir würden damit nur ungerechtfertigte Privilegien und egoistische Interessen verteidigen. Sie fordern z. B. Menschenrechte auch für Tiere, zumindest für Primaten. 


Der Biologismus-Vorwurf: GegnerInnen einer stärkeren Gleichsetzung von Menschen und Tieren befürchten eine Aushöhlung der Idee von der absoluten Sonderstellung des Menschen als Person und als Individuum. Sie glauben, durch einen modernen Biologismus sei der Schutz von Menschen durch grundlegende Rechte bedroht. Sie meinen, wir seien im Begriff, Menschenrechte zu relativieren und in Frage zu stellen. Sie sprechen von  


Arbeitsaufgaben

A1: 

A behauptet: "Der Mensch ist ein Lebewesen, das sich auf eine ganz grundlegende Art und Weise von anderen Lebewesen, Primaten eingeschlossen, unterscheidet.". Wie kann A seine Position unter Berücksichtigung moderner wissenschaftlicher Erkenntnisse begründen? Formuliere ein Statement. 

 

B. behauptet: "Der Mensch ist ein Lebewesen, das sich von anderen Lebewesen, insbesondere von Primaten, allenfalls graduell unterscheidet." Wie kann B. ihre Position unter Berücksichtigung moderner wissenschaftlicher Erkenntnisse begründen? Formuliere ein Statement. 

A2:
Was zeigen die Fairness-Versuche von S. Brosnan und F. d. Waal mit Kapuziner-Äffchen. Welche Schlussfolgerungen im Hinblick auf die Frage nach wesensunterscheidenden Merkmalen zwischen Mensch und Tier lassen sich ziehen? 

A3:
ForscherInnen, die die absolute Grenzziehung zwischen Mensch und Tier in Frage stellen, fordern häufig, auch Tieren (je nachdem: Primaten / höheren Säugetieren / allen Säuge- und Wirbeltieren) grundlegende Rechte oder Würde (zumindest in grundlegender Form) zuzuerkennen. Welche Konsequenzen hätte das? Wärst du dafür? 

A4: 
Die Aufklärung sieht den Menschen als vernunftbegabtes Lebewesen, das zu Autonomie (Selbstbestimmung) fähig ist.

 

 

A. Wie kann man aus heutiger Sicht dieses Menschenbild argumentativ verteidigen? Welche Beispiele kann man anführen? Formuliere ein Statement zur These: "Der Mensch ist ein vernunftbegabtes und zur Autonomie fähiges Lebewesen."

 

B. Wie kann man aus heutiger Sicht dieses Menschenbild in Frage stellen? Welche Gegenbeispiele kann man anführen? Formuliere ein Statement zur These: "Die Aufklärung sieht den Menschen als vernunftbegabtes und zur Autonomie fähiges Lebewesen. Doch die Praxis zeigt, dass dieses Menschenbild viel zu optimistisch ist. Die Menschen lassen sich nicht von der Vernunft leiten. Und sie handeln nicht frei."

A5: Verfasse einen biographisch-philosophischen Steckbrief über Aristoteles (Leben, wichtige Theorien und Denkansätze, Werke, Bedeutung) 


Internetlinks und Quellen